Niemand wird zurückgelassen
Die Kurzgeschichte Niemand wird zurückgelassen (engl.: No One Gets Left Behind) wurde von dem BZPower- und BS01-Mitglied Shadow-Nui für den BS01-Wettbewerb Sleeping Awake geschrieben, bei dem es darum ging, eine Hintergrundgeschichte für die in Stasis gefangene Toa Varian zu schreiben. Shadow-Nui gewann und sein Werk wurde in den offiziellen Kanon aufgenommen. Die ersten zehn Absätze der Geschichte wurden von Nuhrii the Metruan übersetzt; der Rest wurde von Toa-Nuva ins Deutsche übertragen und von Nuhrii the Metruan überarbeitet.
Gekreische. Die Schmerzensschreie leidender Matoraner um ihn herum, sah Norik sich in jede Richtung um, aber die Finsternis war undurchdringlich. Jegliche Versuche, ein Feuer heraufzubeschwören, um sein Ziel zu beleuchten, wurden schnell ausgelöscht. Die Schatten wirbelten um ihn herum und erhöhten langsam den Druck, wodurch sie den Wind aus seinen Lungen quetschten. Die Finsternis kam lebendig herbei, ein Lebewesen, das nur den Tod dieses Toa suchte. Plötzlich verschwand die dämonische Präsenz, zusammen mit den Bäumen, den Felsen, den Schreiben, und, am wichtigsten, dem Boden. Norik fiel in den Schlund, ein ewiger und immerwährender freier Fall, für immer fallen, fallen, fallen...
Norik setzte sich kerzengerade auf, keuchend, und entzündete schnell ein Feuer, das seine Umgebung enthüllte. Die Bäume und Felsen waren immer noch da, und obwohl die einzigen Geräusche das Gezwitscher der Nachtvögel und das Rauschen des Winds in den Blättern waren, lauerten die Schreie immer noch in seinem Hinterkopf. Er atmete tief durch.
„VARIAN!“, brüllte er. Eine azurblaue Maske tauchte neben ihm auf.
„Du hast gerufen?“, fragte sie unschuldig. Norik schaute sie einfach nur an.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du das NICHT tun sollst?“, fragte er. Es war weniger eine Frage denn eine Warnung.
Sie grinste. „Wenn ich kein perfektes Gehörgedächtnis hätte, wäre ich von der Frage beleidigt. 288, wenn man nicht dieses eine Mal mit dem xianischen Experiment mitzählt.“ Norik sagte nichts, sondern schaute sie einfach nur weiterhin an.
„Was, du hast von mir erwartet, dass ich mehr als ein Jahr zurückgehe? So hoch kann ich nicht zählen.“
Sie lagerten nun schon seit mehreren Tagen an der Küste des nördlichen Kontinents und warteten auf ihre Kontaktperson. Ein paar Wochen zuvor war eine Gruppe Matoraner an sie herangetreten, die als Gesandte für ihren Turaga dienten. Drei ortsansässige Toa waren in der Nacht verschwunden, obwohl ein vierter alleingelassen wurde. Der Turaga verdächtigte ein übles Spiel und sandte ein paar Matoraner aus, um Verstärkung anzufordern. Norik und Varian wurden hart unter Druck gesetzt, das Gesuch abzulehnen, und kehrten mit der Gruppe zu ihrer Insel zurück. Sie waren angewiesen worden, ein paar Stunden außerhalb des Dorfes zu warten, für den Fall, dass wer – oder was – auch immer die Toa geraubt hatte, es immer noch beobachtete. Keiner von ihnen erhob Einwände. Sie hatten zu viele Kameraden Hinterhalten zum Opfer fallen sehen. Ein Informant sollte binnen ein oder zwei Tagen zu ihnen zurückkehren und sie über die Lage unterrichten; es waren bereits drei, und obwohl er es sich nicht anmerken ließ, begann Norik, sich Sorgen zu machen.
Norik war mit der Wache an der Reihe. Er schenkte seiner schlafenden Begleiterin einen Blick, die der Welt gegenüber tot war. Der Anblick brachte ihn zum Grinsen. Sie war tagsüber so voller Energie, dass es erstaunlich war, dass sie derart gut schlafen konnte. Anders als sie verspürte Norik kein Verlangen, ihren Schlaf zu stören. Nicht, dass er ihr das verübelte; sie war einfach so. Sie waren nun schon seit Jahrhunderten Partner und er hatte sich an ihre Hänseleien gewöhnt.
Die beiden waren sich völlig fremd gewesen; verschiedene Heimatländer, verschiedene Teams, verschiedene Leben. Ihre Gruppen waren zusammengestoßen, um Herr über eine Invasion der Protocairns zu werden, und ihr Talent für Zusammenarbeit, das sie beim Kampf gegen die merkwürdigen Scheusale (und die darauffolgende Heimsuchung durch Parakrekks) bewiesen, führte schließlich dazu, dass die Teams zusammenblieben. Im Laufe der Jahre sank ihre Zahl, aber sie lösten ihr Team nicht auf und schickten die Mitglieder auf verschiedene Missionen. Norik und Varian, die inzwischen schon gute Freunde waren, arbeiteten oft zusammen und halfen, wo sie konnten.
„Eine ganz Ruhige, was?“, sagte ein graufarbiger Toa. Norik sprang abrupt auf und erzeugte einen Feuerball in seiner Hand.
„Woah, immer mit der Ruhe, mein Freund“, sagte der Toa. „Ich wollte mich nicht so an dich heranschleichen. Macht der Gewohnheit, tut mir leid; Mein Element ist Schall.“
Norik senkte seine Hand, aber löschte den Feuerball nicht. „Du bist unser Kontaktmann?“
Der Toa nickte. „Ich bin der verbliebene Toa. Mein Turaga wollte selbst kommen, aber ich bestand darauf, an seiner Stelle zu gehen. Weißt du schon, was passiert ist?“
„Nur das Wesentliche“, antwortete Norik. „Deine drei Teammitglieder wurden nachts entführt und nur du wurdest zurückgelassen. Hast du eine Vermutung, warum?“
„Viele“, sagte der Toa mit verbitterter Stimme. „Eine verrückter als die andere, aber alle unsere Spuren führten ins Leere.“
Norik seufzte. „Wenn das alles ist, was du mir sagen kannst, können wir wohl nicht viel tun.“
Der Toa des Schalls nickte. „Das hab ich schon befürchtet, aber ich musste es trotzdem versuchen. Ich werde euch zum Dorf führen.“
„Danke“, sagte Norik. „Ach ja, wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt; mein Name ist --“ Der Toa gab Norik ein Zeichen nicht weiterzusprechen.
„Keine Namen. Das macht es leichter. Nennt mich einfach ‚Grau‘.
„Tja, dann bin ich wohl ‚Rot‘“, sagte Norik.
Varian, die inzwischen aufgewacht war, lachte. „Dann darf ich also ‚Gold‘ sein.“ Norik sah sie schief an. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, Norik, da werd ich keinen Rückzieher machen. Das schuldest du mir. Ich werde mich nicht ‚Blau‘ nennen lassen.“
‚Grau‘ kicherte. „Ich bin mit ‚Gold‘ einverstanden. Wir sollten losgehen – je weniger Zeit wir verschwenden, desto besser.“
Sie standen auf und gingen los in Richtung des Dorfes.
„Eines verstehe ich aber nicht“, sagte ‚Grau‘. „Warum tragt ihr keine Waffen? Seid ihr so gut?“
Verwirrung machte sich kurz in Noriks Gesicht breit, bevor er verstand. Er blickte zu Varian und nickte schwach. Varian atmete tief aus; gefährlich aussehende Klingen wuchsen auf einmal aus ihren Ellbogen, und ein riesiger Speer erschien auf Noriks Rücken. Beide trugen Schilde, die Licht auszustrahlen schienen, trotz der drückenden Dunkelheit.
„Na, DAS“, sagte ‚Grau‘, „ist ein netter Trick.“
Die drei Toa betraten am nächsten Morgen das Dorf.
„Es ist schrecklich still“, sagte Varian, als würde sie ihre eigene laute Stimme nicht hören. „Wo sind die Dorfbewohner?“
„Es ist noch ziemlich früh“, sagte Grau, obwohl auch er etwas unsicher wirkte. „Wahrscheinlich sind sie noch alle drinnen. Ich bringe euch zu unserem Quartier… dort wurden sie zuletzt gesehen.“
Die Gruppe betrat das Gebäude. Varian rannte plötzlich voraus und blieb mitten im Raum stehen. Sie schloss ihre Augen und hob ihre Arme hoch, sie atmete tief und regelmäßig.
„Was macht sie da?“, flüsterte Grau, der es nicht wagte, sie zu unterbrechen. Norik, der ihr dabei schon so oft zugesehen hatte, machte sich nicht die Mühe.
„Sie untersucht mental den Raum und die Umgebung“, sagte er. „Du wärst überrascht, wie nützlich so eine einfache Untersuchung sein kann. Man kann damit Illusionen aufspüren, oder versteckte Wesen… manchmal zählt das kleinste Detail.“
Varian riss die Augen auf.
„Passt auf!“, schrie sie.
Das Gebäude explodierte.
Der Dunkle Jäger mit blutroter Rüstung, bekannt als Schleichjäger, lachte gehässig. Er hievte eine gewaltige Plasmakanone hoch und drehte sich zu seinem Gefährten, dem Koloss Sammler.
„Siehst du, Sammler? Die Xianer sind nicht ganz nutzlos.“
Sammler deutete auf die Waffe, die Schleichjäger hochhielt. „Ich dachte, du magst solche heftigen Waffen nicht.“
„Normalerweise ja“, sagte Schleichjäger und warf die Waffe Sammler zu. „Ich bevorzuge es, meine Morde zu spüren. Fernkampfwaffen sind so unpersönlich. Die Verwüstung, die dieses Ding hier verursacht, lässt sich jedoch… als nichts Geringeres als umwerfend bezeichnen.“
„Die Frau ist immer noch drinnen“, merkte Sammler an, ohne auf Schleichjägers philosophischen Vortrag über Morde weiter einzugehen.
„Was für eine Schande“, seufzte Schleichjäger. „Dann kann die Jagd ja losgehen!“
Noriks Augen zuckten auf. Er versuchte sich aufzusetzen, doch fiel wegen der Schmerzen in seinen Muskeln sofort wieder zu Boden. Er versuchte es erneut, diesmal langsamer, und sah sich um. Direkt vor ihm war ein großes Feuer, das trotz der kühlen Luft stark loderte. Es war ein beruhigender Anblick – schließlich war Feuer ja sein Element. Doch dann erinnerte er sich daran, woher das Feuer kam.
„Varian!“, schrie er und rannte zu dem Haus. Er stieß die Flammen mit seinen Kräften aus dem Weg und platzte in die Bleibe. Im Inneren herrschte Chaos, aber zum Glück kein Feuer. Er durchkämmte den Schutt und die Trümmer, stieß schließlich auf seine am Boden liegende Kameradin und hievte sie hoch auf seine Schulter, um sie aus dem Raum zu tragen. Sobald sie draußen waren, legte er sie vorsichtig auf den Boden. Sie atmete noch, aber ihre Augen waren geschlossen und er konnte sie nicht aufwecken.
Norik stand stundenlang bei ihr und weigerte sich, ihr von der Seite zu weichen; es war klar, dass den Dörflern irgendetwas zugestoßen sein musste, und er konnte es nicht riskieren, zu ihrem Boot zurückzukehren, so lange er auf dem Weg mit einem Hinterhalt rechnen musste. Er dachte schon darüber nach, in eines der umliegenden Häuser einzubrechen, in der Hoffnung, dass er darin irgendetwas Hilfreiches finden konnte, als sie endlich aufwachte.
„Ruhig“, sagte Norik sanft, „ruhig!“
„Norik!“, stotterte sie. Sie keuchte und sie zitterte am ganzen Körper.
„Beruhige dich!“, sagte Norik. „Du bist jetzt in Sicherheit. Was ist passiert?“
„Ich … er ...“, murmelte sie und stockte nach jeder Silbe. Sie schaffte es nicht, mehr als zwei Worte aneinanderzureihen. Norik war ratlos und konnte nur zusehen, wie sie nach Worten rang. Als sie ihre Stimme endlich wiederfand, begann sie ihre Geschichte zu erzählen:
Mit ihrer mentalen Untersuchung hatte sie zwei Wesen in der Nähe aufgespürt. Mit einer oberflächlichen Untersuchung fand sie heraus, dass sie Dunkle Jäger waren, mit einer Waffe, die sie alle auf einen Schlag auslöschen konnte. Bis sie ihre Warnung gerufen hatte, war es schon zu spät. Ihre Kanohi Calix ermöglichte es ihr, ihre Reflexe so zu verbessern, dass sie noch rechtzeitig Norik packen und aus dem Raum stoßen konnte. Es war jedoch schon zu spät, um auch noch ihren Toa-Führer zu retten, und das Gebäude wurde von dem Angriff getroffen. Trotz der Explosion blieb sie bei Bewusstsein und versuchte, den Toa des Schalls zu finden, als plötzlich die Dunklen Jäger erschienen. Der Größere, der mit der roten Rüstung, ging auf sie zu, doch bevor er sie erreichen konnte, hörte er eine Stimme hinter sich, die ihn aufforderte stehenzubleiben. Die Stimme gehörte dem angeschlagenen, aber lebendigen Toa des Schalls. Er warf sich den Jägern entgegen und schlug mit seiner Klinge wild um sich. Schleichjäger holte zum Gegenschlag aus und griff mit seiner Klinge an. Varian begann, einen Elemen-tarangriff vorzubereiten, indem sie langsam mentale Energie für einen verheerenden Angriff aufbaute. Es schien, als hätte sie das gerade noch rechtzeitig gemacht; ‚Grau‘ hatte keine Chance gegen den bösartigen Schleichjäger, der ihn schließlich mit seinen Klauen zu Boden drückte. Schleichjäger hob seine Klinge, bereit für einen Todesstoß, und Varian versuchte zu handeln. Einen Bruchteil einer Sekunde bevor sie ihren psionischen Angriff ausführen konnte, zielte der andere Dunkle Jäger und feuerte einen Rhotuka direkt auf Varian.
An dieser Stelle endete ihre Geschichte. Nachdem sie getroffen wurde, beschrieb sie Dinge, die nur einer verstehen konnte, den der Wahnsinn berührt hatte; gewaltige Explosionen aus Farben, und ein kaleidoskopisches Verschwinden ins Nichts. Norik erkannte den Jäger anhand ihrer Beschreibung; ein ehemaliger Matoraner namens Sammler, der gefangengenommen und zu einem Dunklen Jäger gemacht worden war. Norik wusste, dass er einen Rhotuka besaß, mit dem er den Verstand seiner Opfer vollkommen durchmischen konnte, was gegen jemanden, dessen Verstand seine größte Waffe war, nicht nur eine mächtige, sondern eine fast tödliche Waffe war.
„Bitte, Norik!“, sagte Varian. „Wir müssen ihn retten! Vielleicht lebt er noch! Wir können ihn nicht sterben lassen!“
So unwahrscheinlich es auch war, so sehr seine Intuition ihn daran zu hindern versuchte, Norik wusste, dass sie Recht hatte. So lange auch nur die Möglichkeit bestand, dass ‚Grau‘ noch lebte, konnten sie es sich nicht leisten, ihn dem Feind zu überlassen. Ihre Feinde hatten einige Stunden Vorsprung, aber sie waren in einem guten Boot gekommen; auf dem Meer könnten sie sie vielleicht einholen.
„Gut“, sagte Norik. „Gehen wir.“
Varian nickte eifrig und sprang auf, nur um gleich wieder zusammenzubrechen. Norik wollte ihr sofort helfen, aber sie winkte ab.
„Mir geht’s gut, Norik. Ich bin nur… müde.“
Trotz ihrer Beteuerungen machte Norik sich noch Sorgen.
„Ich werde mich in den Wohnungen hier umsehen, ob ich etwas Nützliches für uns finden kann. Kommst du alleine klar?“
Varian nickte. Sie sah wieder besser aus, aber noch immer etwas unkonzentriert. Was geschehen war, hatte sie vollkommen erschüttert. Norik ging langsam zu einer Hütte und ließ keinen Augenblick seine Augen von ihr.
Als er weg war, setzte sie sich hin und begrub ihr Gesicht in den Händen. Was sie Norik erzählt hatte, war die Wahrheit – zumindest größtenteils. Es war definitiv kein physischer Schmerz, sondern nur eine überwältigende Müdigkeit. In gewisser Weise war sie schlimmer als jede Wunde am Körper, und davon hatte sie schon allerhand am eigenen Leib erlebt. Sie seufzte. Es war schwer, ein Toa zu sein. Sie war nicht jemand, die ihre Pflichten vernachlässigen würde, geschweige denn ihre Bestimmung, aber die ständigen Kämpfe hatten ihren Preis. Sie war ursprünglich für Heimlichkeit und Erkundung zuständig gewesen, da ihre Fähigkeiten perfekt für sensorische Arbeit geeignet waren. Was jedoch überhaupt nicht für diese Aufgabe geeignet war, war ihr Charakter. Sie genoss die Freiheit, und noch viel mehr genoss sie Action. Sie war nicht damit zufrieden, dass sie nur als Unterstützung diente, also hatte sie Missionen verlangt, die eher kampforientiert waren. Ihr Anführer, ein alter Toa der Gravitation, hatte das zunächst abgelehnt, aber nach einiger Verhandlung erlaubte er ihr, es zu versuchen. Gerüchten zufolge hatte sie ihre Kräfte genutzt, um ihn von ihren Ansichten zu „überzeugen“, aber keiner von ihnen konnte es sich leisten, das zuzugeben. Sie liebte die Action, aber im Rückblick hatte sie wohl mehr abgebissen, als sie kauen konnte. So stark sie auch war, sie war im Kampf nicht annähernd so fähig wie Norik, und nach jeder Mission fühlte sie sich müder denn je zuvor. Vor Jahren hatte sie sich vorgenommen, Norik von ihren Gefühlen zu erzählen, aber die Jahre kamen und gingen, und noch immer stand sie an vorderster Linie.
Ihre Grübeleien wurden von Norik unterbrochen, der einen glänzenden Gegenstand unter seinen Armen hielt.
„Sie ist nicht unbedingt ein Heilmittel für deinen Schmerz“, sagte Norik, „aber ich denke, sie wird uns trotzdem nützlich sein.“
„Du wusstest schon immer, was du tun musst, damit ich mich wieder besser fühle, Norik“, grinste Varian. „Was ist mit den Matoranern?“
Norik schüttelte den Kopf. „Weg. Ich weiß nicht, was ihnen zugestoßen ist… aber ich glaube, es ist besser, wenn wir es nicht wissen. Wir müssen einen Toa retten.“
Wie sich herausstellte, mussten sie sich gar nicht beeilen. Die Dunklen Jäger waren gerade erst dabei, die Segel zu setzen, als die beiden Toa die Küste erreichten. Norik hielt sich nicht lange mit Taktik auf. Die Zeit für Subtilität war jetzt vorbei. Er kündigte ihre Anwesenheit mit einer Feuerwelle an, gefolgt von einem Schwall von Feuerbällen. Sammler sprang vor und fing die volle Wucht mit seiner dicken Rüstung ab. Schleichjäger bewegte sich nicht von der Stelle, sondern beobachtete amüsiert das Schauspiel. Selbst wenn er aufgepasst hätte, hätte er nie bemerkt, wie sich Varian, durch ihre Elementarkräfte abgeschirmt, auf das Schiff schlich.
Sie sah sich um und entschied sich gegen eine manuelle Suche. Norik konnte die beiden Dunklen Jägern nicht ewig ablenken. Sie musste also ihren mentalen Schild aufgeben, um die Umgebung mit der Kraft ihrer Gedanken nach dem Toa des Schalls durchsuchen zu können. Doch kaum hatte sie das getan, spürte sie das kalte Metall von Schleichjägers Klinge an ihrem Hals.
„Ich dachte mir schon, so ein rücksichtsloser Angriff ist zu schön um wahr zu sein“, sagte der Dunkle Jäger. „Aber ich wusste nicht, wo du warst, bis du so dumm warst, dich selbst preiszugeben.“
Varian biss nicht an, sondern konzentrierte ihre Energien darauf, die Klinge telekinetisch von ihrem Hals wegzudrücken. Als der Abstand groß genug war, duckte sie sich und schlug mit ihren Ellbogenklingen nach hinten aus. Schleichjäger wich zur Seite aus, wurde aber am Torso gestreift und seine Rüstung wurde beschädigt. Verärgert packte er sie mit seinen Klauen, schleuderte sie gegen eine Wand und stach mit seiner Klinge auf sie ein.
Der Kampf verlagerte sich auf das Deck. Sammler und Norik führten ihren Kampf immer noch am Strand fort. Sammler hatte den Kraftvorteil, doch er hatte Probleme zu manövrieren, nachdem Norik ihn mit seinem Langsamkeits-Rhotuka getroffen hatte. Schleichjäger schlug zweimal gezielt nach Varian und beförderte sie über Bord ins Meer. Als Norik einen Moment abgelenkt war, ergriff Sammler die Gelegenheit und schoss mit seiner Waffe direkt in seine Brust. Bis er sich erholt hatte, war das Boot bereits mehrere Kio entfernt, und Varian schleppte sich aus dem Wasser, offensichtlich sehr unzufrieden.
„Ich wollte über das Meer, aber das hab ich mir etwas anders vorgestellt“, prustete sie. „Was nun?“
„Jetzt“, sagte Norik, „geht die Action los. Zum Boot!“
Sie holten die Dunklen Jäger schneller ein als erwartet. Ihr Boot war groß und schwer bewaffnet, aber es war langsam. Noriks Boot hingegen war klein und schnell. Sie folgten ihren Feinden eine kurze Weile, aber ein Angriff mit einer Kanoka-Disk machte ihnen klar, dass das so nicht mehr weitergehen konnte.
Norik blickte Varian an. Was sie nun tun sollte war mutig, riskant und möglicherweise tödlich – schlimmer noch, es hing nur von ihr ab. Sie hatten nicht viele Möglichkeiten, und diese hatte die größten Erfolgschancen. Sie mussten handeln oder sterben; nun waren sie am Zug.
Sie streckte ihre Hand und die Kraft ihrer Gedanken nach vorne und schloss das Schiff der Dunklen Jäger in telekinetischer Energie ein. Durch die gewaltige Größe wurde das Schiff schon allein durch seine Trägheit weiter vorangetrieben, ohne von ihren Kräften stark abgebremst zu werden. Damit hatten sie gerechnet. Varians Kräfte waren schon geschwächt, und das hier wäre für jeden eine große Herausforderung gewesen. Zum Glück hatten sie eine Gegenmaßnahme. Norik holte den Gegenstand hervor, den er im Dorf gefunden hatte: Eine kunstvoll verzierte Maske, mit der Form einer Sanduhr um das Mundstück und breiten Backen.
Die Kanohi der Elementarenergie.
Er warf sie Varian zu. Gleich nachdem sie sie aufgesetzt hatte, spürte sie eine Welle reiner Energie, die ihren Körper durchfloss und ihre Kräfte wiederherstellte. Sie reichte nicht, um ihre Erschöpfung zu heilen, sondern wirkte aufputschend und gab ihr einen dringend benötigten Energieschub. Sie streckte erneut ihre beiden Hände nach vorne und warf ihre Elementarenergie dem Boot entgegen. Das Boot neigte sich und schaukelte, wurde dann aber langsamer und blieb schließlich stehen.
In einiger Entfernung konnte Varian sehen, wie Schleichjäger und Sammler auf dem Deck erschienen, um zu überprüfen, warum ihr Boot angehalten hatte. Sie grinste. Perfekt. Mit Anlauf sprang sie vom Bug von Noriks Boot ab und nutzte ihre Calix, um den Sprung zeitlich perfekt abzustimmen und genug Strecke zurücklegen zu können. Schleichjäger schritt ihr entgegen, um die Herausforderung anzunehmen. Ein Fehler, wie er bald herausfand.
Mitten in der Luft holte Varian ihren Schild hervor und konzentrierte ihre Kraft in ihn. Ein drehendes Rad aus Energie formte sich in ihm, erfüllt mit einer Schlafkraft. Varian schoss den Rhotuka ab; das Rad flog mit tödlicher Geschwindigkeit und traf Schleichjäger. Er war ohnmächtig, bevor er auf dem Deck aufschlug.
Varian landete perfekt und rollte sich ab, um den Aufprall zu dämpfen. Als sie aufstand, wurde sie sofort von Sammler konfrontiert, der mit seiner Klinge angriff. Varian wehrte die Klinge mit ihrem Schild ab, aber Sammler hatte einen mächtigen Arm, der sie auf ein Knie zwang. Mit all ihrer Kraft wehrte sie die Klinge zur Seite ab, schoss vor und schlug mit ihrem Ellbogen nach Sammler. Seine Rüstung war jedoch zu dick, und die Klinge prallte einfach ab. Auch weitere Schläge stellten sich als nutzlos heraus. Vorsichtig kreiste Varian um Sammler; sie wollte ihre geistigen Kräfte nicht nutzen, während er noch seinen Rhotuka-Werfer hielt.
Weiter unten hatte der besorgte Norik sein Ruderboot um das Schiff der Dunklen Jäger he-rummanövriert. Das Schiff einfach zu versenken kam nicht in Frage (so verlockend es auch war), und es war zu riskant zu versuchen, das Schiff selbst zu betreten. Würde er sein Boot aufgeben, würde er damit auch jede Hoffnung auf Flucht aufgeben. Es war eine ausweglose Situation, alles hing jetzt von Varians Erfolg war, genau wie sie es gerne mochte. Hatte sie erst einmal mit der Faust auf den Tisch geschlagen (und das tat sie sehr oft, im wortwörtlichen Sinne), konnte man ihr mit Argumenten nicht mehr beikommen. Er konnte jetzt nur noch warten und hoffen, und er war in beidem nicht gut.
Auf dem Deck bereitete Varian gerade einen weiteren Rhotuka vor. Norik hatte ihr gesagt, dass Sammler nie schlief, aber das bedeutete ja nicht, dass er es nicht konnte.
Sie bekam nie die Gelegenheit, ihre Theorie zu überprüfen, denn sie wurde brutal von der Seite niedergeschlagen. Als sie fiel, konnte sie aus den Augenwinkeln Schleichjäger sehen, der inzwischen wieder von seinem „Nickerchen“ aufgewacht war. In den letzten Momenten ihres Bewusstseins schickte sie einen telepathischen Hilferuf aus, einen letzten, verzweifelten Schachzug, bevor sie auf dem Deck aufschlug. Schleichjäger hob die schlafende Toa auf und ging rein, um das Schiff wieder zum Weiterfahren zu bringen.
Sammler wollte es ihm gleichtun, aber als die Temperatur plötzlich anstieg, blickte er zurück. Dort war Norik, Flammen wirbelten um ihn herum, Speer und Schild waren bereit. Norik stach mit seinem Speer zu und schoss seinem Gegner einen konzentrierten Strahl aus Magma entgegen. Mit überraschender Geschwindigkeit wich Sammler dem Strahl nach unten aus und schoss dann in die Höhe. Dann feuerte er sein gesamtes Waffenarsenal auf Norik und traf ihn mit seinem Rhotuka, seiner Energiekanone und mehreren Kanoka-Disks. Norik wurde von dem Angriff überwältigt und von Sammler aufgefangen und nach innen getragen.
Varian öffnete ihre Augen; zumindest dachte sie das. In dieser Pechschwärze machte es keinen Unterschied. Sie tastete um sich, um ihre Umgebung zu erfühlen. Alles, was sie spürte, war kalter, harter Stein, vermutlich von einer Gefängniszelle. Eine Steinplatte rutschte zur Seite und Varian wurde von dem plötzlichen Lichtstrahl geblendet. In dem neuen Eingang stand ein gewaltiger Dunkler Jäger mit goldener Rüstung, von dem sie wusste, dass er als „Älterer“ bezeichnet wurde.
„Ah“, sagte der altgediente Dunkle Jäger. „Du bist wach. Das erspart mir den Ärger. Du wirst in der Kammer des Umschatteten erwartet.“
„Erwartet?“, fragte Varian. „Und wenn ich nicht komme?“
Älterer zuckte verhalten mit den Schultern. „Dann stirbst du.“
„Ich komme.“
„Weise Entscheidung.“
Älterer führte Varian in eine große Kammer. Ein Thron stand zentral im Raum. In dem Thron saß der Umschattete, der eine Aura der Zuversicht und der Macht ausstrahlte, wie ein Normalsterblicher sie nie erhalten könnte. Hinter ihm lauerte Finsternis, und zu seiner Rechten saß sein Aufzeichner, bereit, seinem einzigen Lebenssinn nachzukommen. Älterer verließ den Raum und kehrte mit den leblosen Körpern eines Toa des Feuers und eines Toa des Schalls zurück.
„Nun, Toa“, sagte der Umschattete, um Varians Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. „Ich befinde mich in einer Zwickmühle. Weißt du, ich habe zwei Toa bestellt, und stattdessen… hat man mir drei geliefert. Nach den meisten Standards wäre das ein Problem, aber ich habe mir eine clevere Lösung ausgedacht. Du wählst für mich.“
Einen Moment begriff Varian den Sinn seiner Worte nicht. Langsam dämmerte ihr, was hinter dieser einfachen, bösen Handlung steckte.
„Nein“, sagte sie entschlossen. „Da mache ich nicht mit!“
Der Umschattete lachte. „Wagemut im Angesicht der Gefahr ist bewundernswert. Aber drei ist immer noch zu viel.“ Er führte seine Klinge an Noriks Kehle. „Entweder wählst du jemanden, der überlebt … oder ich wähle jemanden, der stirbt.“
Sie brach zusammen. Norik war ihr bester Freund, sie konnte nicht für seinen Tod verantwortlich sein.
„Er“, sagte sie. „Norik, ich wähle ihn.“
„Vorhersehbar“, sagte der Umschattete herablassend. „Nun gut. Er wird wieder zum Nördlichen Kontinent zurückgebracht, lebend.“
Als Älterer den Toa des Feuers aus dem Raum trug, wirkte Varian mit ihre Kräfte auf ihn ein, um ihn mit angenehmen Gedanken und Träumen zu beschenken. Das war alles, was sie ihm für die lebenslange Freundschaft geben konnte.
Als er weg war, drehte sich Varian zum Umschatteten um.
„Und was ist mit uns? Was hast du mit uns vor?“
„Du“, betonte der Umschattete, „wirst für immer hier bleiben, in Stasis. Du wirst nichts sehen, hören oder fühlen.“
„W-warum?!“, rief Varian. „Zu welchem Zweck?“
„Zweck?“, sagte der Umschattete spöttisch. „Bilde dir nichts ein, Toa. Du hast keine höhere Berufung. Du wirst hier ausgestellt, wie diese Kanohi. Ich gebe zu, es fiel mir schwer, mich auf ein Element festzulegen, aber ich habe mich für Psionik entschieden. Deine Art hat einen gewissen… Charme.“
Vollkommen verwirrt hielt sich Varian an der letzten Information fest, die sie noch nicht kannte.
„Was ist mit dem Schall-Toa? Ich… ich kenne nicht einmal seinen Namen. Was hast du mit ihm vor?“
„Sein Name ist Triglax“, sagte der Umschattete. „Und er wird mir weiterhin dienen, wie schon seit Jahrhunderten.“
Verwirrt drehte sich Varian zu dem Toa um, der nun wieder auf den Beinen war und sich gegen die Wand lehnte. Vor ihren entsetzten Augen, begann er sich zu verändern und zu verwandeln, bis er schließlich eine vollkommen andere Gestalt annahm.
Der Umschattete beugte sich über sie.
„Du kannst von Glück reden, dass du in der Stasis… auch nicht denken können wirst.
Ihre Schreie waren die letzten Geräusche, die Varian jemals von sich gab.