Versionsunterschied von Das Rätsel der Großen Wesen
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Version vom 9. Januar 2011, 16:57 Uhr
Die Webserie Das Rätsel der Großen Wesen (engl.: Riddle of the Great Beings) erschien ab Januar 2009 im Original in Form eines Biocast-Hörbuchs auf BIONICLEStory. Sie wurde von Greg Farshtey geschrieben und von Nuhrii the Metruan übersetzt. Sie spielt während und nach dem Comic Der Fall von Atero.
Kapitel 1
Tarduk blinzelte den Schweiß aus seinen Augen. In solchen Zeiten wünschte er sich, er müsste nicht in voller Rüstung samt Helm arbeiten. Aber selbst hier, so nahe bei der freien Stadt Atero, war es ein wenig zu gefährlich, alleine und ungeschützt draußen in der Wüste zu sein. Seine Aufgabe hier war Routine. Zusammen mit Agori aus verschiedenen Dörfern – Kyry, Crotesius, Scodonius und Kirbold – war er in Atero, um bei der Vorbereitung der Arena auf das kommende Turnier zu helfen. Trotz der Pflege das ganze Jahr hindurch, war es immer vonnöten, kleinere Reparaturen vorzunehmen, bevor Glatorianer von überallher an dem Ort zusammenkamen.
Natürlich war Tarduk nicht lange bei jener Arbeit geblieben, nicht solange es ganz in der Nähe Ruinen gab, die er erkunden konnte. Unter dem Vorwand, ein paar Vorräte von seinem Wagen zu holen, war er aus der Stadt herausgehuscht und hatte eine wahrscheinliche Stelle zum Graben gefunden. Es war harte Arbeit, und heiße Arbeit. Er hätte einen Helfer gebrauchen können, aber das war nicht machbar. Kyry war viel zu engagiert bei der Arbeit in Atero, Kirbold wollte einfach nur fertig werden und wieder zurück nach Iconox, Scodonius war irgendwie ein Widerling und Crotesius kannte er kaum.
Nein, entschied er, der beste Gräber ist der, der alleine gräbt. Sein Werkzeug traf auf etwas, das ungefähr einmeterzwanzig tief im Sand vergraben war. Als er es herausfischte, entdeckte er, dass es ein Rechteck aus Metall war, das ungefähr doppelt so groß war wie seine Hand und offensichtlich von etwas größerem abgebrochen worden war. Darauf geschrieben war ein Kreis mit einem viel kleineren Kreis am inneren, unteren Rand. Tarduk runzelte die Stirn. Er war zuvor schon über derartige Dinge gestolpert, mit ähnlichen Symbolen. Er hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten, und auch niemand anders, soweit er wusste. Wenn sie eine Sprache waren – welche Sprache und wer sprach sie? Es war frustrierend, da er nicht genügend Exemplare gefunden hatte, um auch nur anzufangen zu versuchen, die Symbole zu entziffern.
Er drehte das Metallstück um, in der Hoffnung, dass auf der Rückseite ein weiteres Symbol sein würde. Stattdessen fand er etwas gänzlich anderes. Eine Karte war in das Metall eingeritzt worden. Manche der Orte erkannte er wieder, manche nicht. Am unteren Ende der Karte war eine Bergkette, die doch sehr wie die Schwarzen Stachelberge im Norden aussah. Die Landstriche, die direkt unter den Bergen gezeichnet waren, schienen zu bestätigen, dass es dasselbe Gebirge war. Der Großteil der Karte zeigte jedoch Gegenden nördlich der Berge, eine Region, mit der er nicht vertraut war. Alles, was er wirklich über sie wusste, war, dass die Skrall angeblich von dort kamen. Am oberen Ende der Karte waren zwei weitere Symbole, die aber etwas anders waren als die, die er vorher gefunden hatte. Eines war nur ein Gewirr aus miteinander verbundenen Linien, die fast wie ein Netz oder ein Netzwerk aussahen. Das andere war ein Stern. Letzteres war deshalb so interessant, weil es das einzige Symbol war, das gefärbt war. Der Stern war rot.
Ein roter Stern, dachte Tarduk. Wer hat denn je von so etwas gehört? Es war sicherlich faszinierend, aber es war unmöglich, dem auf den Grund zu gehen, zumindest für ihn alleine. Indem er nach Nordwesten reiste, konnte er die Schwarzen Stacheln umgehen und die nördliche Region erreichen, aber die Karte deutete tosende Flüsse und andere Naturgefahren auf dem Weg an. Ohne Hilfe dorthinauf zu gehen wäre mehr als nur gefährlich und kein Glatorianer würde sich so kurz vor dem Atero-Turnier für den Job anheuern lassen.
„Hey!“ Tarduk wirbelte herum. Crotesius lief herüber. Er sah etwas genervt aus. „Wirst du helfen oder im Sand spielen? Was hast du da?“
Tarduk zeigte dem Vulcanus-Agori, was er gefunden hatte. Crotesius machte keinerlei Anstalten, es zu nehmen – er betrachtete es einfach nur von beiden Seiten und zuckte dann mit den Schultern.
„Was ist damit? Es ist ein Stück Schrott. Vielleicht könntest du es benutzen, um deinen Wagen zusammenzuflicken, aber ansonsten…“
Was für ein Vorox, murmelte Tarduk zu sich selbst. Laut sagte er: „Du hast wahrscheinlich Recht. Ich meine – dieser rote Stern – was soll das Ganze? Immerhin weiß ja jeder, dass es dort oben nichts Wertvolles gibt. Keinen verborgenen Schatz, keine Stadt und keine Wassersteine, gar nichts.“
Das war natürlich eine gewaltige Lüge und Tarduk wusste, dass Crotesius sie nie glauben würde. In der Tat zählte er darauf. Gerüchte davon, was es im Norden geben mochte, flogen schneller umher als Sandkörner in einem Sandsturm. In Iconox sagten sie, die Berge wären mit wertvollem Exsidian bedeckt. In Vulcanus sagten sie, es würde dort ganze Täler aus Wassersteinen geben, jenen kostbaren Steinen, die aufgebrochen werden konnten, um reines Wasser darin zu offenbaren. Was Tajun betraf, nun, man war dort sehr fantasievoll, und die Agori von Tesara wollten nicht einmal mehr darüber reden.
Jetzt griff Crotesius nach dem Metallstück, um es zu nehmen und es näher zu betrachten. „Weißt du, wenn du willst, könnte ich dir dieses… äh… Altmetall abnehmen. Vielleicht würdest du ja gerne einen Handel machen?“
Später würde Tarduk nicht imstande sein, zu erklären, warum genau er gesagt hatte, was er sagte. Vielleicht hatte er nach Jahren des Wühlens im Sand und des Auffindens von Stücken eines Puzzles ohne einen Weg, dieses zu lösen, einfach genug gehabt. Wenn er sich nicht auf das Wagnis einließ, würde er nie irgendwelche Antworten finden. „Du kannst das Metallstück haben… wenn du mit mir gehst, um diesen roten Stern zu finden, was auch immer er sein mag.“
„Dorthinauf gehen? Bist du verrückt?“, sagte Crotesius.
„Das ist das Angebot“, sagte Tarduk entschlossen. „Wir haben genug Zeit, bevor das Turnier anfängt, um dorthinauf und wieder zurück zu gelangen.“ Er war sich nicht wirklich sicher, ob das stimmte, aber das würde er Crotesius nicht sagen. „Überlege es dir“, fuhr er fort. „Was ist, wenn es etwas wirklich Wertvolles dort oben gibt, etwas, das jedermanns Leben auf Bara Magna verändert? Nun, ich meine, du wirst ein Held sein!“
Crotesius lächelte. Als Fahrzeugpilot in der Arena war er nur ein weiterer Agori Kämpfer in einer Welt, die von Glatorianern dominiert wurde. Aber wenn er etwas wirklich Großes vollbrachte… nun, Raanu würde nicht ewig leben, vielleicht konnte er eines Tages Vulcanus anführen.
„Einverstanden, Tarduk“, sagte Crotesius. „Ich schätze, du kannst dich meiner Expedition anschließen, aber wir werden mehr Hilfe benötigen. Schau mal, ob du noch ein paar weitere Agori rekrutieren kannst, ohne ihnen von dem Stern zu erzählen. Und wir brechen im Morgengrauen auf.“
Tarduk lief weg, ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus. Sicher, er war nicht ganz aufrichtig gewesen, aber manchmal musste man beim Streben nach Wissen Abkürzungen nehmen, nicht wahr? Tarduk konnte nicht ahnen, dass jene Abkürzung ihn bald in einen Alptraum führen würde.
Kapitel 2
Letzten Endes war nur Kirbold bereit, mit Crotesius und Tarduk auf die Suche nach dem Roten Stern zu gehen. Scodonius sagte, es wäre verrückt, so kurz vor dem Tag des Turniers auf irgendeine wilde Felsentierjagd zu gehen, und Kyry hatte es eilig, nach Vulcanus zurückzukommen. Crotesius schlug vor, auf Fahrzeugen in den Norden zu reisen, aber Tarduk widersprach diesem Vorschlag.
„Fahrzeuge können nicht dorthin gelangen, wo wir hingehen, nicht einmal welche mit Ketten“, sagte Tarduk, „und außerdem machen sie Lärm und Lärm zieht Knochenjäger an. Nein, wir werden Sandläufer benutzen.“
Es brauchte etwas Feilscherei, um drei der Tiere von einem Händler aus Iconox zu borgen, besonders da Tarduk nicht sagen wollte, wo sie mit ihnen hingehen wollten. Aber binnen kurzer Zeit saßen die drei Agori im Sattel und waren bereit, ihre Expedition zu starten.
Die kürzeste Route wäre gewesen, nach Osten zu den Dunklen Fällen und dann nach Norden zu der vulkanischen Region oberhalb der Schwarzen Stachelberge zu gehen, aber die Präsenz der Skrall, Vorox und Knochenjäger dort oben machte sie auch zur gefährlichsten. Also führte Tarduk die kleine Gruppe nach Nordwesten, vorbei an dem Dorf Tesara und dem Ellbogengipfel und in die Weißen Quarzberge. Kirbold, der aus Iconox stammte, kannte diese Region ziemlich gut. Es gab Pfade, die Händler durch die Gipfel nahmen, auf der Suche nach allem von Wert, das sie verkaufen konnten.
Es war kalt hier, noch schlimmer als die Wüste bei Nacht. Mehr als nur einmal verloren die Sandläufer fast den Halt auf der glatten Oberfläche aus Kristall und Fels. Obwohl es alle drei Agori nervös machte, mussten sie tagsüber reisen. Es würde im Dunkeln zu leicht sein, vom Pfad abzukommen und möglicherweise direkt von einer Klippe zu stürzen.
Nach zwei Tagen waren sie weit genug nach Norden gekommen, sodass sie in vollkommen unvertrautem Territorium waren. Welche Kreaturen auch immer in dieser Region lebten, sie würden nie in der Wüste im Süden gewesen sein, da sie offensichtlich von der Kälte lebten. Crotesius war durchgehend auf der Hut. Deshalb war er der erste, dem auffiel, dass sie verfolgt wurden.
„Sollten wir anhalten?“, fragte Tarduk.
„Nein“, blaffte Crotesius, „das ist das Schlimmste, was wir tun könnten. Wir müssen schneller gehen. Vielleicht können wir sie abhängen.“
Tarduk bezweifelte es. Er hatte einen ihrer Verfolger erspäht. Er sah ein wenig wie einer der Ödlandwölfe aus, die in der Wüste lebten. Ihre Pfoten hatten sich entwickelt, um imstande zu sein, den lockersten Sand zu überqueren, und sie waren äußerst effektive Fährtenleser. Aber, ermahnte sich Tarduk, war ihr Jäger keine dieser Kreaturen. Beispielsweise bestand diese Bestie halb aus Metall. Tarduk hatte noch nie etwas derartiges gesehen.
„Wie viele?“, fragte Kirbold.
„Mehr als einer“, antwortete Crotesius. „Sechs oder acht vielleicht. Sie sind schwer auszumachen.“
Tarduk war sich nicht sicher, wie irgendetwas sich derart ungesehen durch das Weißquarzgebirge bewegen konnte. Als der Tag voranschritt, wurde das die geringste seiner Sorgen. Egal wie schnell die Partie vorankam, die Wölfe blieben auf ihrer Fährte. Egal, welche List sie versuchten, um der Verfolgung zu entrinnen – einen Sandläufer in eine andere Richtung wegzuschicken, auf ihrer eigenen Spur zurückzugehen, sogar etwas des kostbaren Nahrungsvorrates auf dem Pfad zurückzulassen, um das Rudel abzulenken – die Wölfe folgten weiterhin.
„Was sind das für Dinger?“, fragte Tarduk zum dritten Mal.
Jetzt mussten sie durch die Nacht reiten, ob es ihnen gefiel oder nicht. Kirbold teilte Tarduks Reittier und Crotesius ritt an der Spitze. Obwohl es wahrscheinlich sowieso egal war, weigerte Crotesius sich, eine Fackel anzuzünden, da er glaubte, die Wölfe würden das Licht sehen. Tarduk argumentierte, dass sie wahrscheinlich mit dem Geruchssinn jagten, aber es war zwecklos.
Sie kamen auf einen engen, gewundenen Pfad. Auf der rechten Seite war die Flanke des Berges, auf der linken ein steiles Gefälle in die Finsternis. Die gute Nachricht war, dass es hier keinen Ort gab, an dem sich die Wölfe verstecken konnten. Sie würden auch dem Pfad folgen oder aufgeben müssen, schien es. Die schlechten Nachricht war, dass selbst die Sandläufer Schwierigkeiten damit hatten, ihren Halt zu finden. Ein Ausrutscher und jemand würde von dieser Reise nicht zurückkommen.
Indem sie sich so schnell voranbewegten, wie sie es wagten, reisten die drei Agori den Pfad hinab. Einmal stolperte das Reittier, das Kirbold und Tarduk trug, und ein Packen Werkzeuge fiel herab und in den Abgrund. Das Geräusch, wie er auf dem Boden aufschlug, blieb aus.
Kirbold schaute zurück. Im hellen Licht der Monde konnte er kein Anzeichen ihrer Verfolger sehen. „Ich denke, wir haben sie abgehängt. Glaubt ihr, wir haben sie abgehängt?“
Tarduk schaute über seine Schulter. Er sah auch nichts, sagte aber: „Nein, ich glaube nicht, dass wir sie abgehängt haben.“
„Ich auch nicht“, stimmte Kirbold zu.
Der Pfad begann sich zu weiten und wurde eher ein Plateau. Der Morgen dämmerte, die ersten Lichtstrahlen wurden von den Quarzgipfeln reflektiert. Crotesius zog an den Zügeln, um seinen Sandläufer anzuhalten, und Tarduk tat dasselbe. Sie schauten zurück. Es gab keine Spur des halben Dutzends fell- und metallbedeckter Wölfe, das ihnen gefolgt war.
„Vielleicht haben sie es nicht über den Pfad geschafft“, sagte Crotesius, „oder sie haben leichtere Beute gefunden. Was auch immer der Fall ist, ich bin froh, dass sie weg sind.“
„Äh, es gibt eine andere Möglichkeit“, schlug Tarduk vor. „Sie haben aufgehört, uns zu folgen, weil sie wussten, dass sie es nicht mehr mussten.“
Crotesius wirbelte beim Erklingen eines leisen Knurrens herum, ein leeres metallisches Geräusch, das durch die Berge hallte. Auf einem Felskamm vor ihnen aufgereiht waren nicht sechs der Wölfe, sondern sechzig. Sie waren einem Jagdrudel entwischt, nur um direkt in die Höhle des Löwen zu reiten.
Kapitel 3
Die drei Agori saßen auf ihren Reittieren, starr vor Angst. Vor ihnen standen Dutzende von Wölfen, ihre Körper eine verrückte Mischung aus Muskel und Fell und mattem Metall. Ihre Augen waren glänzende Punkte wilden Lichts in der Finsternis. Tarduk konnte ihr moschusartiges Odeur riechen, gemischt mit dem Geruch kalten Eisens.
„Passt auf“, flüsterte Crotesius. „Sie werden versuchen, uns zu umkreisen, sodass wir umzingelt sind. Dann werden sie angreifen."
„Danke für den Biologieunterricht“, antwortete Kirbold. „Wie kommen wir hier raus?“
„Durch sie hindurchreiten?“, schlug Tarduk vor. „Vielleicht können wir, ich weiß nicht, ihnen davonrennen?“
Crotesius tätschelte die Flanke seines Sandläufers. „Ich denke nicht, dass diese Tiere sich diesen Dingern noch einen Schritt nähern werden, wenn sie es vermeiden können.“
Tarduk wünschte, ihm würde eine weitere Idee einfallen. Vorwärts zu gehen schied aus. Rückwärts zu gehen bedeutete, mit einem Rudel Wölfe an ihren Fersen über einen engen Pfad zu hetzen. Wenn sie nicht in einen bodenlosen Abgrund fielen, dann würden sie in den Genuss kommen, gefressen zu werden. Er konnte nicht glauben, dass ihre Reise schon so bald endete, und auf so schreckliche Art und Weise.
Crotesius war der erste, der einen Neuankömmling erspähte. Etwas – nein jemand – näherte sich hinter dem Wolfsrudel. Die Gestalt war gebeugt und gekrümmt und hinkte schwer. Er trug einen Stab in seiner Linken hand und schien sich auf ihn zu verlassen, um aufrecht zu gehen. Selbst mit dem Mondlicht war es unmöglich, das gepanzerte Wesen klar zu sehen. Aber dann sprach er.
„Runter.“
Es war ein einfaches Wort, aber gesprochen von einer Stimme, die Tarduk wie die Glieder toter Bäume vorkam, die gegen einen Schuppen kratzten. Zur Verblüffung der drei Agori kauerten die Wölfe sich gegen den gefrorenen Boden. Die Gestalt begann, vorwärts zu humpeln, wobei sie sich unbehindert durch die Wölfe fortbewegte. Alles, was Tarduk einfiel, war Malum, der Gerüchten zufolge nun unter den bestialischen Vorox lebte. Aber es war nicht Malum, der auf sie zukam. Tarduk hörte Kirbold vor Wiedererkennung keuchen. Der Agori aus dem Eisdorf Iconox sagte: „Surel? Aber du bist—“
„—tot?“, sagte der verkrüppelte Krieger. „Nah dran vielleicht, aber immer noch unter den Lebenden. Verloren im Chaos des Krieges war ich, und wurde zurückgelassen, krumm und gebrochen, als die Kämpfe weiterzogen. Und seither bin ich hier.“
Das war mehr, als Crotesius verkraften konnte. „Du hast in den Bergen gelebt mit diesen... diesen... Dingern?“
„Du bist vom Feuervolk“, sagte Surel, als würde er zum ersten Mal die rote Rüstung des Agori sehen. „Also kannst du nicht die Eisenwölfe kennen, eine der... effizienteren Erfindungen der Großen Wesen. Ich habe dieses Rudel trainiert, sie in die Schlacht geführt, und als die Welt zerbrach, blieben sie an meiner Seite. Es waren die Wölfe, die mir Essen brachten und mich vor Schaden bewahrten. Und es gab viele in diesen Bergen, die mir Schaden zugefügt hätten.“
Surel griff hinab und streichelte einen der Wölfe, streifte seine Hand über Fell und Metall. „Vielleicht habt ihr vergessen – oder wusstet nie – wie die Dinge früher waren. Armeen marschierten durch die Wüsten, die Urwälder, die Berge und kämpften, um die Energie im Kern der Welt zu erlangen. Die Elementarlords führten uns in den Krieg und als ihre Taten den Planeten zerstörten, hatte man sie eingesperrt. Ja, man hatte sie eingesperrt.“
Tarduk erschauderte. Wurde es kälter oder war es Furcht, die ihn zittern ließ? Es wäre ein Leichtes gewesen, der Gegenwart von Surel und seinen Schoßtieren die Schuld zu geben, aber nein, es wurde kälter. Der Wind wurde stärker und Schnee hatte zu fallen begonnen, zuerst nur ein wenig, dann stärker. Bald konnte er durch den Sturm kaum noch den alten Krieger und seine Wölfe ausmachen.
„Moment mal“, sagte Kirbold, „ich erinnere mich an den Krieg. Ich erinnere mich, wie er endete, und ich erinnere mich an die Elementarlords. Aber du sagtest ‚man hatte sie eingesperrt?’“
Surel nickte seinen Kopf, was schmerzhaft war wegen seinen Verletzungen. „Ich weiß nicht, warum ihr hierher gekommen seid, aber ich sage euch nun: kehrt um. Die Elementarlords wandeln erneut auf diesem Planeten, und die Glücklichen unter euch werden als erste sterben.“
Ein Brüllen erfüllte Tarduks Ohren. Er schaute in die Richtung der Quelle des Geräuschs. Ein massiver Wall aus Weiß raste den Berg hinab, eine Lawine aus Schnee, vor der es kein Entrinnen gab, und auf dem Berg stand und beobachtete, wie das Verderben auf die Agori zuraste, ein Krieger aus Eis.
Kapitel 4
Tarduk schloss seine Augen fest. Eine massive Lawine aus Eis und Schnee donnerte den Berghang hinab auf ihn und seine Verbündeten zu. Es gab keinen Weg, um ihr davonzulaufen oder ihr auszuweichen. Er und seine beiden Agori-Kameraden, Surel und seine Eisenwölfe waren allesamt dem Untergang geweiht.
In dem, was seiner Überzeugung nach die letzten paar Momente seines Lebens sein würden, dachte er an all die Artefakte, die er nie entdecken würde, all die Rätsel, die er nie lösen würde. Allem voran dachte er an die Karte, die ihn nach Norden in die Berge gebracht hatte, diejenige mit der Gravur eines roten Sterns darauf. Das Sterben wäre ihm leichter gefallen, wenn er zumindest die Bedeutung jenes Symbols erfahren hätte.
Es gab einen derart hellen Lichtblitz, dass er ihn durch seine Lider hindurch sehen konnte, und eine Welle schier unerträglicher Hitze. Tarduk öffnete seine Augen, um den Berg lodern zu sehen, die Flammen so kräftig, dass sie den Schnee zu Wasser schmolzen und das Wasser augenblicklich zu Dampf verwandelten. Die Eisenwölfe heulten und wichen zurück, und Surel ging mit ihnen. Die beiden Sandläufer, auf denen die Agori ritten, bäumten sich vor Panik auf, und es brauchte das ganze Geschick der Reiter, um sie daran zu hindern, durchzugehen.
Tarduk spähte durch die Flammen, um zu versuchen, den Eiskrieger auszumachen, den er zuvor auf dem Gipfel entdeckt hatte. Ja, die kristallene Figur war immer noch da, ihre Körpersprache sprach von unbändigem Zorn. "Wir müssen hier sofort raus", sagte Tarduk.
"Was hat dich davon überzeugt", fragte Kirbold, "die Lawine oder der Feuersturm?"
"Die Möglichkeit, dem Grund für eines von beidem von begegnen", erwiderte Tarduk.
Diesmal mussten sie sich keine Sorgen machen, mitten in die Eisenwölfe hineinzureiten; das Feuer hatte sie alle verjagt. Surel jedoch war in der Gegend geblieben. Als sie einen Pfad hinaufritten, kam er hinter einem Felsen hervor und hob ihnen die Hand entgegen.
"Geht zurück", flehte Surel sie an. "Jenseits von hier gibt es nichts für euch. Geht zurück zur Sicherheit eurer Heimatdörfer."
Crotesius lachte bitter. "Du bist in letzter Zeit offensichtlich nicht in einem unserer Heimatdörfer gewesen."
"Dieser Flammenstrahl", sagte Tarduk, "der war nicht natürlich, oder? Es war der Elementarherr des Feuers, der uns gerettet hat."
Jetzt war es Surel, der lachte. "Euch gerettet? Ihr seid Staub für ihn, nicht einmal Staub. Das war ein Angriff auf seinen gefrorenen Feind. Ihr seid zwischen ihnen einfach ins Kreuzfeuer geraten."
"Warte mal", mischte Crotesius sich ein. "Ich erinnere mich an die Elementarlords und die Armeen und den Krieg, aber der Krieg endete vor über hunderttausend Jahren."
Surel schüttelte seinen Kopf. "Er endete für euch, für ihre Soldaten, und er endete für Spherus Magna, wie es alle Dinge in jenem schrecklichen Moment taten. Aber für die Elementarlords geht der Kampf weiter."
Tarduk schaute zurück. Er sah kein Anzeichen davon, dass ihnen irgendwer folgte, und hielt es daher für sicher, fortzufahren. "Ein Kampf um was?", fragte er. "Der Kernkrieg wurde um Energien aus dem Herzen des Planeten geführt, aber der Planet existiert nicht mehr. Worum könnte man denn noch kämpfen?"
Surel sagte nichts, sondern hob einfach einen welken Arm und zeigte nach Norden. Tarduk spürte einen Schauder über seinen Rücken laufen. Er versuchte erst gar nicht, sich einzureden, er käme nur von der Kälte. Er wühlte in seinem Rucksack und zog das Fragment mit der Karte hervor. Surel schaute auf es hinab. Tarduk hörte, wie er laut einatmete.
"Der Rote Stern", murmelte er. "Das Tal des Labyrinths." Er schaute jeden Agori nacheinander an. "Ihr sucht dieselben Geheimnisse wie die Elementarlords und ihr riskiert dasselbe Schicksal. Das Herz des Irrgartens beherbergt das letzte Rätsel der Großen Wesen. Viele haben das Tal in der Hoffnung betreten, das Rätsel zu lösen. Keiner hat es je wieder verlassen."
"Lass mich raten", sagte Crotesius. "Du glaubst, wir sollten umkehren."
Surel zuckte mit den Schultern, was nicht leicht zu bewerkstelligen war, wenn man einen derart gekrümmten Körper hatte. "Ich glaube, der Rote Stern brennt in euren Augen und in eurem Herzen, wie schon bei so vielen vor euch. Ich glaube, ihr werdet weitergehen, egal welche Warnungen ich euch gebe. Und ich weiß, ich weiß, dass ihr sterben werdet."
Tarduk schaute Crotesius und Kirbold an. Keiner von beiden sah verängstigt aus, oder vielleicht verbargen sie es nur gut. Und er wusste, dass Surel Recht hatte. Er musste die Geheimnisse, die auf dieser Karte angedeutet wurden, entdecken, selbst wenn das hieß, in Gefahr hineinzureiten.
"Du hast Recht", sagte Tarduk, "wir werden weitergehen. Kannst du uns helfen, uns irgendetwas darüber sagen, was vor uns liegt?"
Surel schwieg lange Zeit, dann schüttelte er seinen Kopf und sagte: "Wir leben in einer zerbrochenen Welt und an einem solchen Ort bleibt nichts ganz und unberührt. Der Strom des Lebens wird abgelenkt, durch Dämme gehalten, fehlgeleitet und sogar", sagte er mit einem Blick auf seinen eigenen ruinierten Körper, "unvorstellbar verzerrt. Was euch im Norden erwartet? Ein Reich aus Lügen, ein Ort, an dem Schönheit ein verdorbenes Herz verbirgt, wo Bäume keinen Schutz bieten, die Luft keine kühlende Brise, und wo Wasser euren Durst nicht stillt. Und in dem Moment, in dem ihr glaubt, was ihr seht oder hört, berührt oder schmeckt, wird es zu spät für euch sein."
"Hör auf, in Rätseln zu reden", blaffte Crotesius. "Wenn du nichts nützliches zu sagen hast, dann geh uns aus dem Weg."
Blitzschnell zog Surel einen Dolch und hielt ihn an Crotesius' Kehle. Tarduk konnte sich nicht entsinnen, je gesehen zu haben, wie ein Spitzenglatorianer sich so schnell bewegte.
"Ich könnte dich jetzt töten und dir die bevorstehenden Schrecken ersparen", sagte Surel mit lodernden Augen. "Aber du verdienst solche Gnade nicht. Reitet weiter, Agori. Jenseits dieses Pfades ist der Klingenwald. Alle, die hindurchreisen, werden eins mit der Natur, und dahinter liegen die ach so willkommenen Wasser des Dormus-Flusses. Und wenn ihr überlebt, wartet der Irrgarten auf euch."
Kapitel 5
Tarduk, Crotesius und Kirbold waren einen vollen Tag lang geritten. Sie hatten Surel, seine Eisenwölfe und seine düsteren Warnungen zurückgelassen, aber keiner konnte seine Worte vergessen. Kirbold hatte seitdem geschwiegen, verloren in seinen eigenen Gedanken. Tarduk war wachsamer denn je, da er hoffte, den nächsten Angriff zu entdecken, bevor es zu spät war. Crotesius wiederum hatte beschlossen, dass Surel nach so vielen Jahren in den Bergen verrückt geworden war und dass es kaum sinnvoll war, im Wahn gesprochenen Worten eines Irren Achtung zu schenken.
Tarduk hielt inne, um das Metallfragment, das er trug, anzuschauen, auf dem die seltsame Karte eingezeichnet war. Ja, sie waren beinahe weit genug im Norden. Bald würde es an der Zeit sein, sich nach Osten zu wenden und dann dorthin zu reisen, wo sich das Symbol des roten Sterns auf dem plumpen Schaubild befand. Kirbold hielt den Sandläufer abrupt mit den Zügeln an.
„Ich habe meine Meinung geändert. Ich will umkehren“, sagte er.
„Wir kehren nicht um“, antwortete Crotesius, ohne sich umzudrehen.
„Ich weiß nicht einmal, was wir hier machen“, blaffte Kirbold. „Wen schert es, was jenseits der Berge liegt? Wir haben daheim unsere eigenen Probleme.“
„Vielleicht hängen die beiden zusammen“, schlug Tarduk vor. „Vielleicht gibt es etwas hier oben, das uns helfen kann, mit den Knochenjägern, den Vorox und den Skrall fertig zu werden.“
„Wir sind wegen einer Waffe hier?“, fragte Kirbold. „Wenn es etwas derart Mächtiges hoch im Norden gäbe, hätten die Ältesten bereits Glatorianer geschickt, um es zu holen.“
„Vielleicht wollten sie etwas Derartiges nicht in den Händen von Strakk“, murmelte Crotesius. „Oder Kiina, was das betrifft.“
„Halt den Mund!“, sagte Tarduk.
„He, ich habe ein Recht, zu sagen, was ich denke!“, entgegnete Crotesius.
„Nein, ich meine, halt den Mund, ich glaube, ich höre weiter vorne etwas“, sagte Tarduk.
Alle drei verstummten – jetzt konnten sie es alle hören. Ein raues, klagendes Geräusch wie ein Lied, das von einem Chor aus Toten gesungen wurde. Es schien aus einem Wald in der Ferne zu kommen.
„Das ist der Wind“, sagte Crotesius. „Ihr wisst schon, eine große Böe heißer Luft, die ausreicht, um eine Person umzuhauen. So in etwa wie Scodonius nach einem Sieg in der Arena.“
„Ich weiß, dass es der Wind ist“, antwortete Tarduk. „Ich habe nur noch nie zuvor so einen Wind gehört.“
„Der Klingenwald“, sagte Kirbold. „Da vorne. Vielleicht ist das der Ort, von dem Surel sprach.“
„Ich sehe keine Klingen“, sagte Crotesius. „Ich sehe Bäume. Das bedeutet, dass es vielleicht irgendeine Frucht oder etwas anderes gibt, das wir essen können. Ich bin im Moment hungrig genug, um Thornax-Eintopf zu essen. Sogar kalten Thornax-Eintopf.“
Tarduk setzte zu einer Erwiderung an, aber auch nur der Gedanke an kalten Thornax-Eintopf war so ekelerregend, dass er schwer schlucken musste, um zu verhindern, dass ihm schlecht wurde. Crotesius hatte seinem Sandläufer die Sporen gegeben und ritt voraus. Kirbold zögerte einen langen Moment, bevor er folgte. Tarduk, der direkt hinter Kirbold auf dem Tier saß, verspürte einen Moment der Erleichterung. Er wollte kein Teammitglied verlieren und er bezweifelte, dass Kirbold es alleine sicher zurück nach Iconox schaffen würde. Sie mussten zusammenbleiben.
Als die kleine Gruppe näher heranritt, fiel ihnen etwas Seltsames auf. Schwaches Sonnenlicht ließ etwas glitzern, was Schwerter zu sein schienen, die aus Bäumen herausragten. Es sah fast so aus, als wäre der Wald bewaffnet, so seltsam das auch scheinen mochte.
„Muss eine sonderbare Art von Baum sein, der solche Äste wachsen“, sagte Kirbold. „Ich schätze, jetzt wissen wir, wie der Ort zu seinem Namen gekommen ist.“
„Ach ja?“, sagte Tarduk. „Sieh genauer hin.“
Kirbold spähte durch den morgendlichen Nebel. Was er nur für einen glänzenden Ast gehalten hatte, war tatsächlich ein Schwert, und es ragte nicht aus dem Holz hervor. Es wurde von der Hand eines Kriegers gehalten, der halb im Stamm des Baums gefangen war. Kirbold keuchte. Er erkannte plötzlich, dass es hier jede Menge Krieger gab, deren Körper mit dem Holz des Waldes verschmolzen waren, die immer noch ihre Waffen umklammerten. Es war, als hätten die Bäume sich ausgestreckt und sie gepackt und wollten nicht mehr loslassen. Er konnte nicht sagen, ob die Krieger noch lebten oder nicht.
„Das ist... entsetzlich“, sagte er.
„Was denkst du?“, fragte Tarduk Crotesius.
Der Feuer-Agori starrte einfach nur lange Zeit den schrecklichen Wald an. Dann sagte er: „Kein natürlicher Wald verhält sich auf diese Weise. Ich hasse es, es zu sagen, aber Surel hatte Recht. Die Elementarlords waren hier. Hier ist die Macht über die Vegetation am Werk. Nach allem, was wir wissen, könnten diese Krieger schon seit dem Krieg hier sein.“
„Wenn sie noch leben, müssen wir sie retten“, sagte Tarduk.
„Das bedeutet, dort hineinzugehen“, erwiderte Crotesius.
Tarduk nickte. Kirbold zog an den Zügeln, um den Sandläufer wenden zu lassen.
„Du kannst hier gleich absteigen, Tarduk“, sagte Kirbold. „Ich kehre um.“
Tarduk wusste, dass er mit ihm streiten sollte, aber ihm fiel kein gutes Argument ein. Das Vernünftige wäre, zur Wüste zurückzureisen und zu versuchen, zu vergessen, dass dieser schreckliche Ort existierte. Aber etwas sagte ihm, dass hier mehr auf dem Spiel stand als nur die Entdeckung von neuem Wissen oder das Lösen eines Rätsels. Mehr und mehr kam er sich vor, als befände er sich auf einer Mission, und zwar einer lebenswichtigen.
Ohne ein Wort sprang Tarduk von dem Sandläufer herab. Dann kletterte er auf Crotesius’ Reittier.
„Sei vorsichtig, Kirbold. Der Rückweg könnte gefährlicher sein als der Weg hierher.“
Kirbold nickte in Richtung des Klingenwalds. „Gleichfalls, mein Freund. Ich denke, ihr seid verrückt, dort hineinzugehen, aber... ich werde sicherstellen, dass daheim alle wissen, dass ihr versucht habt, anderen zu helfen... und...“
Seine Stimme versagte und er hörte auf, zu sprechen. Tarduk beugte sich herüber und schüttelte seine Hand. In ihren Herzen glaubten beide, dass sie einander nicht wiedersehen würden.
Tarduk wartete, bis Kirbold bereits ein ganzes Stück gegangen war, bevor er Crotesius bat, den Sandläufer in Bewegung zu setzen. Zusammen ritten sie in den kalten, grünen Schatten des Waldes. Sie waren so nahe an den Kriegern, dass Tarduk die Hand hätte ausstrecken können, um ihre Rüstung zu berühren, aber das tat er nicht. Er gab sein Bestes, um tapfer zu sein, aber er wusste, dass er, sollte einer der gefangenen Krieger sich plötzlich bewegen, schreien müssen würde.
Keiner von ihnen regte sich. Die beiden Agori ritten tief in den Wald. Es war still. Keine Vögel sangen hier, keine Nagetiere huschten über den blätterübersäten Boden auf der Suche nach einer Mahlzeit. Es war eine Art Garten, aber es war kein Ort des Lebens. Zumindest kam es Tarduk und Crotesius so vor, bis zu dem Moment, als der Wind wieder blies, sich das heulende Geräusch erhob und die Äste überall um sie herum sich ausstreckten, um sie beide zu packen.
Kapitel 6
Bevor sie reagieren konnten, waren Crotesius und Tarduk von ihrem Sandläufer gerissen worden. Der Wald um sie herum war zum Leben erwacht, Äste griffen nach ihnen und Lianen knoteten sich um die beiden Agori. Binnen Augenblicken waren sie an Bäume gefesselt. Crotesius blickte in die Runde der zahllosen Krieger, deren Körper mit dem Holz des Waldes verschmolzen, und wunderte sich, ob das auch sein Schicksal sein würde.
„Ich habe ein kleines Messer, das ich bei meinen Grabungen benutze“, sagte Tarduk. „Vielleicht kann ich die Lianen durchschneiden und freikommen.“ Mit etwas Mühe bekam Tarduk die Klinge in seine Hände und schnitt tief in eine der Lianen. Die Pflanze reagierte sofort, schlang eine ihrer Ranken um sein Genick und drückte zu, bis er sich sicher war, dass er ohnmächtig werden würde. Erst als er das Messer fallen ließ, ließ der Druck nach. „Ich schätze, die wollen uns nicht gehen lassen“, sagte er.
Nicht weit entfernt peitschte ein Minizyklon Blätter in die Luft. Mehr und mehr Pflanzenmaterie wurde in seinen Sog gezogen, bis ein ganzes Segment der Waldwiese mit Blättern, Lianen und Ästen gefüllt war, die wild im Griff des Tornados umherwirbelten. Dann trat ein Wesen aus dem Sturm selbst hervor.
Auf den ersten Blick dachte Tarduk, er wäre vielleicht aus Pflanzen gemacht gewesen. Er war groß und grün, mit Dornen, die aus seinen Armen und Beinen herausragten, und verschlungenen Wurzeln, die seinen Brustkorb durchkreuzten. Seine Augen waren von einem so dunklen Smaragdgrün, dass sie fast schon schwarz waren. Seine Arme waren lang, dicke Lianen waren um sie geschlungen, und weitere Dornen dienten ihm als Krallen. Selbst sein Schwert sah aus, als wäre es ein grünes Gewächs, wenngleich scharf und tödlich.
Erst als er näher hinsah, begann Tarduk zu zweifeln. Vielleicht war dieses Wesen eine lebende Pflanzenkreatur oder vielleicht war es einfach seine Rüstung, die ihn so aussehen ließ. Egal, Tarduk hatte keinen Zweifel daran, wer er war: der Elementarherr des Dschungels, Meister des Grünen.
Der Neuankömmling schaute Tarduk an, dann Crotesius, dann zuckte er sanft mit den Achseln, was wie das Zerbrechen von Zweigen unter den Füßen klang. „Ihr kennt den Weg nicht“, sagte der Herr des Elements. „Ihr seid für mich nicht von Nutzen.“
Tarduk wollte gerade fragen, wovon genau er eigentlich redete, aber Crotesius sprach zuerst. „Woher wisst Ihr, dass wir den Weg nicht kennen? Was meint Ihr, warum wir hier sind?“
Was machst du da?, dachte Tarduk.
Der Herr des Elements lief zu Crotesius hinüber und kratzte mit einem dornigen Fingernagel über den Helm des Agori. „Du bist Feuer“, sagte er. „Feuer kennt nur Zerstörung. Ich habe gesehen, wie Feuer das Labyrinth zu durchdringen versuchte und Mal um Mal scheiterte.“ Er wandte sich Tarduk zu. „Du kamst zufällig hierher, aber du gehörst zum Grünen, Agori, also werde ich dich gehen lassen. Dein Begleiter muss jedoch bleiben und sich meinem Klingenwald anschließen.
„Ich erinnere mich an Euch“, sagte Tarduk. „Vor dem Krieg habt Ihr mein Volk angeführt. Ihr ließt Dinge wachsen. Ihr brachtet Leben. Wie könnt Ihr einfach töten, als bedeute es nichts?“
Die Lianen ließen Tarduk plötzlich frei und er stürzte auf den Waldboden. Als er aufsah, loderten ihn die Augen des Elementarherrn an. „Bist du je im tiefen Wald gewesen, Agori?“, fragte er. „Dort leben die Kreaturen in immerwährender Finsternis, weil das Dach der Wälder zu dicht ist, um Sonnenlicht hindurchzulassen. Schlingpflanzen erwürgen die Bäume, saugen ihnen das Leben aus, sodass sie ihren Platz einnehmen und alles Licht einfangen können, das sie finden können. Jedes Lebewesen profitiert vom Tod eines anderen.“
Tarduk erspähte ein schwaches Glühen von Licht in der Ferne hinter dem Herrn des Elements. Er wusste nicht, was es war, aber falls es irgendeine Chance gab, dass Hilfe unterwegs war, musste er weiterreden. „Was seid Ihr, dass Ihr dies tun konntet?“
„Einst war ich ein Krieger, wie diejenigen, die hier festgehalten werden“, antwortete der Herr des Elements. „Dann wurden ich und fünf meiner Brüder von den Großen Wesen auserwählt für die Ehre, die Dörfer von Spherus Magna anzuführen. Wir wurden von ihrer Macht verändert, mit unseren Elementen vereint und man gab uns Rüstung und Waffen, um unser Volk zu verteidigen. Wir waren nicht mehr wie die Agori oder wie sonst irgendwer. Wir wurden zur Natur selbst, so wohlwollend, gebend, gnadenlos und gleichgültig, wie sie sein kann. Wir—“ Die Augen des Elementarherrn weiteten sich plötzlich.
Er stieß einen abgehackten Schrei aus und wirbelte zornentbrannt herum. Hinter ihm war Kirbold aufgetaucht, der eine Fackel trug. Er hatte die Lianen, die Crotesius gefesselt hatten, in Brand gesteckt, und der Agori war wieder frei. Aber der Herr des Elements hatte den Schmerz seiner Schöpfungen gespürt und Tarduk bezweifelte plötzlich sehr, dass irgendeiner der drei Dorfbewohner hier lebend rauskommen würde.
„Die Fackel!“, rief Tarduk. „Wirf die Fackel!“
Kirbold warf den lodernden Stock. Er landete zu Füßen des Herrn des Elements, inmitten der Blätter. Gelb-orangefarbenes Feuer brach aus, das sich von der Pflanzenmaterie ringsum ernährte. Binnen Sekunden war der Herr des Elements von einem unkontrolliert brennenden Brand umgeben.
„Rennt!“, rief Crotesius.
Die drei Agori machten sich so schnell wie möglich davon, wobei sie Bäumen auswichen und über Steine sprangen. Nur Tarduk sah zurück. Der Herr des Elements war weg. Nicht tot, da war er sich sicher, sondern nur zurück in den Wald verschwunden. Möglicherweise war er verwundet, aber wahrscheinlicher war, dass er seine Kraft lenkte, um das Feuer aufzuhalten, bevor es das Holz verschlang.
Tarduk sah Bäume und Büsche und Lianen brennen, alles damit er und seine beiden Freunde entkommen konnten, und er dachte über die Worte des Herrn des Elements nach: dass jedes Lebewesen vom Tod eines anderen profitiert.
Jene Worte würden noch für sehr lange Zeit durch Tarduks Verstand hallen.
Kapitel 7
Tarduk, Crotesius und Kirbold hatten die Wälder weit hinter sich gelassen, wenn auch nicht die Erinnerungen daran, was dort geschehen war. Sie waren für den Großteil des Tages schweigend gereist. Tarduk hatte sich nicht einmal damit aufgehalten, Kirbold zu fragen, warum er zurückgekehrt war. Er war nur dankbar, dass der Eis-Agori es sich nochmal anders überlegt hatte.
Den Großteil der letzten paar Stunden über war die Gruppe an einem Flussufer entlanggeritten. Tarduk hatte keinen Zweifel daran, dass dies der Dormus-Fluss war, von dem Surel gesprochen hatte. Er schien gewiss auf keine Weise gefährlich zu sein. Es war ein friedliches und ruhiges Gewässer, in dem nicht einmal irgendwelche Stromschnellen zu sehen waren. Allein schon das machte Tarduk etwas nervös. Seine Erfahrung auf Bara Magna war, dass alles, was sicher und einladend aussah, in der Regel weder das eine noch das andere war. Da er viel von seinem Leben in einer Wüste verbracht hatte, wirkte der Anblick von fließendem Wasser aber zugleich auch anziehend.
Schließlich erreichten sie einen Punkt, an dem der Fluss durchquert werden musste, wenn sie weiterhin nach Norden reisen wollten. Tarduk kundschaftete umher, bis er eine Stelle fand, die flach genug wirkte.
"Hier werden wir ihn überqueren", sagte er. "Der Karte zufolge sind wir nicht allzu weit von dem Ort entfernt, zu dem wir hin wollen."
"Das ist eine ganz schön alte Karte", sagte Crotesius. "Woher wissen wir, dass dieses 'Roter Stern'-Teil überhaupt noch dort ist? Oder sonst irgendwas? Die Skrall sind wahrscheinlich schon durch das ganze Gebiet hier gestürmt, bevor sie nach Bara Magna gekommen sind. Ich bezweifle, dass sie viel stehen gelassen haben."
"Du willst diesen Fluss doch nur nicht überqueren!", scherzte Kirbold. "Ihr Feuertypen werdet nicht gerne nass, was?"
Crotesius legte die Stirn in Falten. Er lief direkt zum Wasserrand vor und wandte sich um, um seine beiden Gefährten anzuschauen.
"Ja sicher, nachdem an die mechanischen Wölfe und die hungrigen Bäume und all die anderen Dinge auf dieser Reise überstanden habe, hab ich vor einem Bach Angst? Ich werde ihn jetzt überqueren, und dann..."
Es gab keine Zeit für einen Warnruf. Hinter Crotesius brach eine gigantische Wasserhand aus dem Fluss hervor. Im Nu hatte sie den Feuer-Agori gepackt und ihn unter die Oberfläche gezogen. Tarduk und Kirbold eilten zu der Stelle hin, ungeachtet der potenziellen Gefahr für sie selbst.
"Kannst du schwimmen?", fragte Tarduk.
"Ich werd's schaffen", sagte Kirbold. "Wie lautet der Plan."
"Ihm nach", antwortete Tarduk. "Los geht's!"
Die beiden Agori hatten drei Schritte in das Wasser gemacht, als die Hand wieder auftauchte. Diesmal, um sie beide zu packen. Im nächsten Augenblick wurden sie hinab in den Fluss gezogen. Zu Tarduks Erstaunen ertrank er nicht. Etwas Luft war mit ihnen hinabgezogen worden und plötzlich hatte er das miese Gefühl, den Grund zu kennen.
Der Elementarlord des Dschungels wollte Informationen von uns, erinnerte er sich. Wenn hier der Elementarlord des Wassers am Werk ist, will er vielleicht dasselbe, und wir können ihm nichts sagen, wenn wir tot sind. Aber was geschieht, wenn er herausfindet, dass wir ihm nichts zu erzählen haben?
Das Wasser war dunkel und kalt. Tarduk konzentrierte sich auf einen nadelgroßen Lichtpunkt weiter vorne. Während sie sich rapide näherten, konnte er Crotesius in einer Luftblase im Wasser hängend ausmachen. Bald trieben er und Kirbold neben ihm.
Vor ihnen begann sich die Unterwasserströmung zu biegen und zu winden. Das Wasser formte sich selbst in das Ebenbild eines Gesichtes um, das locker so groß war die einer der Agori. Seine leere Stimme drang von jeder Seite zu ihnen.
"Kennt ihr den Weg?", sagte sie.
"Einer Eurer Brüder hat uns bereits gefragt", sagte Tarduk. "Ihr seid der Elementarlord des Wassers, richtig?"
"Ich habe diese Ehre, ja", antwortete der Elementarlord. "Und was habt ihr meinem Bruder gesagt?"
Tarduk warf Crotesius einen Blick zu. Der Feuer-Agori nickte kaum merklich, womit er signalisierte, dass er bei jedem Spiel mitmachen würde, das Tarduk machen wollte. Wie sich herausstellte, musste Tarduk sich nicht entscheiden, was als nächstes zu tun war - Kirbold meldete sich zu Wort.
"Dasselbe, was wir Euch sagen werden", sagte der Eis-Agori. "Sicher kennen wir den Weg. Wären wir so weit hinaus gekommen, wenn wir ihn nicht kennen würden? Aber warum sollten wir ihn Euch verraten?"
Der Elementarlord hielt inne, als würde er tatsächlich über seine Antwort nachdenken.
"Selbsterhaltung", sagte er schließlich.
Diesmal war es Crotesius, der antwortete. "Viel zu überbewertet. Lieber ein toter Held als ein lebendiger Feigling, sage ich immer."
Dies schien dem Elementarlord einen kleinen Rückschlag zu versetzen. Er und seinesgleichen waren nicht an Widerrede gewohnt. Um die drei Agori herum begann das Wasser zu brodeln.
"Weißt du, wie es sich anfühlt, zu ertrinken, Dorfbewohner?", fragte der Elementarherr. "Zu spüren, wie sich deine Lungen mit Wasser füllen und wie dein Sichtfeld schwarz wird? Ich könnte dich das eintausend Male spüren lassen, und noch öfter, ohne dass du weißt, wann man dir endlich gestattet, zu sterben."
"Sicher könntet Ihr das", sagte Tarduk. "Aber wenn Ihr es versucht, werden wir sicherstellen, dass es diesen einen Schritt zu weit gehen wird. Tot sind wir für Euch nutzlos. Tot erzählen wir Euch nichts und Ihr werdet nie den Weg kennen. Aber vielleicht könnten wir, wenn Ihr uns sagt, warum Ihr so verzweifelt diese Information wollt, eine Abmachung treffen."
Der Dschungel-Agori konnte nicht ganz fassen, was er da sagte. Dieses Wesen musste lediglich den Wasserdruck erhöhen und er konnte sie zu Paste zerquetschen, aber nach so einer langen Reise und so vielen Gefahren hatte Tarduk genug von Rätseln und Bedrohungen. Was auch immer ihre Gründe waren, die Elementarlords gierten verzweifelt nach Wissen, und es war an der Zeit, das gegen sie zu verwenden.
"Warum?", fragte der Elementarlord. "Weil am Ende des Weges Macht auf ihre Ergreifung wartet. Macht genug, um den Krieg auf die einzige Art und Weise zu beenden, auf die er enden kann. Mit einem Sieg für einen von uns."
Tarduk wollte gerade anmerken, dass der Kernkrieg vor hunderttausend Jahren zu Ende gegangen war, aber dann erinnerte er sich an etwas, das Surel gesagt hatte: dass der Krieg für die Agori und Soldaten zu Ende gegangen war, aber nicht für die Elementarlords. Ihr Hass brannte immer noch, selbst in den Tiefen des Wassers.
"Wir können ihn Euch nicht erklären", sagte der Dschungel-Agori. "Er ist zu kompliziert. Wisst Ihr, wenn Ihr einmal falsch abbiegt, dann wär's das gewesen. Wir würden ihn Euch zeigen müssen." Tarduk hielt die Luft an. Der Dschungel-Elementarlord war einem fast so vorgekommen, als könnte er Gedanken lesen - wenn dieser da das auch konnte, waren sie verloren.
Aber der Elementarlord des Wassers griff weder an, noch wütete er gegen sie. Vielleicht war letztendlich doch keiner der Elementarlords imstande, Gedanken zu lesen. Vielleicht hatte Dschungel nur angenommen, dass kein Agori diese Art von Wissen mit sich führen würde.
"Nun gut", sagte der Wasser-Elementarlord. "Ihr werdet weiterziehen und das Wasser wird euch folgen. Ihr werdet mir den Weg zeigen und im Gegenzug..."
Die drei Agori bekamen nie zu hören, was ihr Fänger zum Tausch anbieten wollte. Die Temperatur des Wassers um sie herum fiel plötzlich in den Keller. Crotesius schaute flussabwärts und seine Augen weiteten sich. Das Wasser gefror schnell und dieser Effekt raste direkt auf sie zu.
Der Elementarherr des Wassers stieß einen Schrei des Zorns und der Frustration aus. Eis hatte ihn wieder gefunden. Jetzt würde seine Essenz aus dem Fluss fliehen müssen oder er würde Gefahr laufen, zu erfrieren.
"Es bewegt sich zu schnell", rief Kirbold. "Wir werden es nie rechtzeitig an die Oberfläche schaffen."
"Es tut mir Leid", sagte Tarduk. "Es tut mir Leid."
Wenige Meter entfernt wurde das Flusswasser zu festem Eis, von der Oberfläche bis zum Grund. Jedes Lebewesen, das Pech genug hatte, in dem Wasserweg zu sein, wurde sofort gefroren. Das würde auch gleich drei sehr tapfere Agori mit einschließen.
Kapitel 8
Das erste, was Tarduk auffiel, war, dass es heiß war. Wirklich heiß. Das ergab keinen Sinn; das letzte, woran er sich erinnerte, war, im Dormus-Fluss zu sein, im Begriff, von schnell voranrückendem Eis starr gefroren zu werden. Das zweite, was ihm auffiel, war, dass sein Mund voller Sand war. Er lag mit dem Gesicht nach unten in dem Zeug. Daher konnte er schon einmal ausschließen, an den Ufern des Dormus zu liegen, da es dort keinen Sand gab.
Etwas zögerlich hob er seinen Kopf. Er war in der Wüste, umgeben von Ruinen. Es sah aus, als wäre hier vor nicht allzu langer Zeit irgendeine große Schlacht gewesen.
Tarduk stand auf und schwankte, überwältigt von einer Welle der Benommenheit. Als sie vorbei war, begann er sich umzusehen. Sofort sah er Crotesius und Kirbold. Beide waren bewusstlos, aber lebendig und offenbar unverletzt. Kirbold lag neben einem großen Steinblock, der halb im Sand vergraben war. In ihn war ein Schriftzug eingraviert. Tarduk befreite ihn vom Sand und las: "Atero-Arena."
Was?, dachte Tarduk. Das kann nicht sein. Als wir in den Norden aufbrachen, war die Atero-Arena ganz, das Turnier stand kurz vor dem Beginn. Was könnte das getan haben?
Tarduk suchte den Boden verzweifelt nach irgendeinem Hinweis ab. Er sah Glatorianerrüstungen und -waffen überall verstreut, offensichtliche Zeichen eines Kampfes. Und noch etwas: ein Skall-Schild, das wie ein Siegesbanner in den Boden gepflanzt worden war.
Das war es also. Die Skrall hatten Atero angegriffen und es zerstört. Und jetzt... was? Griffen sie die Dörfer an? Oder waren sie vielleicht nach Norden gegangen, um denselben Ort der Macht zu finden, den er gesucht hatte? Er musste es herausfinden.
Da erklangen Worte in seinem Kopf. Jemand hatte vor nicht langer Zeit zu ihm gesagt: "Der Fels ist bereits unbeugsam. Legt ihm die Macht der Großen Wesen in die Hände und keine Welt ist mehr sicher." Aber wer hatte das gesagt, und wo?
Er hatte eine vage Erinnerung an einen Torbogen, eine Steinplatte, und jemanden, der mit ihm sprach. Und dann lief er in den Torbogen und... plötzlich fiel ihm alles wieder ein, eine Flut aus Erinnerungen strömte in sein Gehirn. Ja, er war mit Crotesius und Kirbold unter Wasser gewesen. Sie waren Gefangene des Elementarlord des Wassers gewesen. Dann begann sich der Fluss zu Eis zu verwandeln, da der Herr jenes Elements angriff. Der Wasserherr war zur Flucht gezwungen gewesen und Momente später verschwanden auch die Luftblasen, die die Agori am Leben gehalten hatten. Aber sie würden erfrieren, lange bevor sie ertranken.
Verzweifelt begannen die Drei, zum Ufer zu schwimmen. Noch während sie das taten, konnten sie eine Unruhe im Wasser spüren, die ihre Quelle flussaufwärts hatte. Tarduk drehte sich um und sah eine riesige schwarze Gestalt unter Wasser auf sie zu rasen. Als sie näherkam, erkannte er, dass es eine massive Felsplatte war. Er hatte kaum Zeit, das zu registrieren, bevor er hochflog und hinaus aus dem Wasser, zusammen mit seinen beiden Freunden. Tarduk landete unsanft am schlammigen Ufer. Er drehte sich rechtzeitig um, um drei Felssäulen zu sehen, die sich ins Wasser zurückzogen. Im nächsten Augenblick gab es das Geräusch eines großen Aufpralls und Eisscherben flogen aus dem Fluss hoch. Der riesige Fels hatte die herannahende Eiswelle zu Stücken zerschlagen.
Tarduk stand auf. Zuerst dachte er, er musste sich bei der Landungden Kopf angeschlagen haben. Vor ihm stand ein Spiegelbild von ihm selbst, nur aus Fels. Aber als es sprach, war es nicht seine Stimme, sondern die unverwechselbaren Tonlagen eines Skrall.
"Kehrt um", sagte der duplizierte Tarduk. "Ihr gehört nicht hierher. Ich werde der Eroberer des Labyrinths sein, nicht ihr."
"Wir wollen überhaupt nichts erobern", sagte Tarduk. "Wir suchen nur nach Antworten."
"Und manche von uns sind sich nicht einmal mehr der Fragen sicher", fügte Crotesius hinzu.
Tarduk erwartete, dass das Felsending sie bedrohte oder sogar angriff. Statdessen nickte es nur. "Ihr seid vielen Gefahren begegnet, als ihr hierher kamt, nicht wahr? Ihr vermisst eure Heimat."
Crotesius und Tarduk sagten nichts. Kirbold nickte nur.
"Dann werde ich eure Reise nicht weiter aufhalten", sagte der Elementarlord des Felses, denn wer konnte es sonst sein. "Aber ich werde euch warnen. Der Fels ist bereits unbeugsam. Legt ihm die Macht der Großen Wesen in die Hände und keine Welt ist mehr sicher. Diese Macht wird mir gehören und niemandem sonst. Reist weiter, findet heraus, was ihr herausfinden müsst. Nehmt nichts mit euch zurück. Und kehrt nie wieder." Daraufhin zerfiel die Felsstatue von Tarduk zu Staub.
"Vielleicht ist es an der Zeit, nach Hause zu gehen", sagte Crotesius.
"Nein, nicht nachdem wir so weit gekommen sind", sagte Tarduk. "Wir sind nah dran, das weiß ich."
Die drei Agori reisten am Flussufer entlang und hielten wachsam nach einem weiteren Angriff der Elementarlords Ausschau. Ein paar Stunden später erreichten sie den Oberlauf. Vor ihnen stand dort ein massiver Torbogen, der mit schmückenden Gravuren übersät war. Oben stand groß und breit auf Agori das Wort "Seelenwunsch" geschrieben.
Tarduk war verblüfft von dem Anblick: "Ich dachte, das sei nur eine Legende."
"Du hast davon gehört?", fragte Crotesius.
"Ich hab mal eine Inschrift gelesen, die sich darauf bezog", erwiderte Tarduk. "Der Geschichte zufolge bekommt jeder, der hindurchgeht, den größten Wünsch seiner Seele erfüllt, oder so etwas in der Art. Wenn es funktioniert, können wir vielleicht sofort hingehen, wo auch immer wir hin wollen, anstatt weiter zu Fuß zu reisen. Es ist einen Versuch wert."
"Sieht ohnehin nicht so aus, als hätten wir irgendeine Wahl", sagte Kirbold. "Es gibt keinen Weg um ihn herum. Wir müssen hindurchgehen."
Sich stählend, liefen die drei Agori unter den Bogen. Es gab einen Lichtblitz, ein schreckliches, Übelkeit erregendes Gefühl und dann völlige und totale Finsternis... bis Tarduk im Sand aufwachte. Und jetzt ergab es Sinn. Der Bogen war kein magischer Wünscheerfüller, er war ein Teleportationsgerät, genau die Art von Sache, die die Großen Wesen bauen würden. Er war so entworfen, dass er die Gedanken von jedem abtastete, der darunter hindurchlief, und sie hinschickte, wo auch immer sie hingehen wollten. Oder vielleicht auch, wohin die Großen Wesen sie schicken wollten. Das konnte man nicht wissen.
Aber warum bin ich hier gelandet?, fragte sich Tarduk. Ich wollte zum Labyrinth gehen. Ich wollte Antworten. Oder hatte der Elementarlord des Felses Recht? Wollte ich irgendwo, tief drinnen, einfach nur noch nach Hause? Und deshalb hat es mich dorthin geschickt.
Crotesius und Kirbold waren nun auf ihren Füßen und schauten sich schockiert in den Ruinen von Atero um. Tarduk wusste, dass sie in ihre Dörfer zurückgehen wollten, und er wollte das auch. Aber sobald er sich versichert hatte, dass Tesara in Ordnung war, würde er zurück in den Norden gehen. Er musste es. Diesmal würde er es durch den Bogen schaffen und finden, wonach er suchte. Diesmal würde er nicht wanken. Selbst wenn er alleine gehen musste, er würde diese Reise machen. Er war ausgezogen, um ein Rätsel zu lösen, und es schien, als würden ein paar ziemlich mächtige Wesen das auch versuchen. Es war immer noch da draußen, peinigte ihn, eine Frage ohne Antwort. Aber er würde sie irgendwie beantworten - und zwar bald.
Tarduk schaute nach Norden. Seine Bestimmung lag in dieser Richtung, das wusste er. Und nichts würde ihn daran hindern, sie zu erreichen.